Interview mit Anita Cochran

© February 2001 / Bruno Michel

 

Ihre Eltern lernten sich an einem Country Konzert, bei dem ihr Vater auftrat, kennen. Ihre Mutter singt Country Gospel und die drei älteren Brüder spielen Rock, Blues und Jazz. Wen wundert’s, dass Anita Cochran schon sehr jung ihre erste Bühnenerfahrung sammelte. „Meine Eltern gaben mir diese riesige Martin D-35 in die Hand. Mama musste das Instrument festhalten, während ich spielte. Das Ding habe ich heute noch, es ist mein Talisman“, erinnert sich Anita. Als Teenie überredeten sie die Eltern, an einem Talentwettbewerb mit zu machen. Dort traf sie Backstage auf Loretta Lynn, eines ihrer musikalischen Vorbilder. Aber in South Lyon, Michigan, gab es nicht viele Orte, wo eine Country Musikerin auftreten konnte, also schlug sie sich von einer Band zur andern durch, bevor sie sich für eine Songwriter- und Solokarriere entschied. Die Wende kam, als sie Dick Williams traf, einen Ex-Manager der Musikindustrie, der mittlerweile eine eigene Produktionsfirma besass. Er packte Anita’s Demo Tape in einen Umschlag und schickte es an Jim Ed Norman bei Warner Brothers. Ihr erstes Album, Back To You, entstand.

 

bm:  Anita, Dein erstes Album kam 1997, ein Juwel für mich und viele Country Music Fans. Warum mussten wir bis 2000 auf die zweite Produktion, Anita, warten?

AC:  Nach dem ersten Album hatten wir den Nummer-1 Hit mit Steve Wariner. Dadurch waren wir sehr viel auf Tournee. Wir waren dauernd beschäftigt. Da ich zudem Songs schreibe, Gitarre spiele und singe, dauert das Ganze bei mir viel länger als wenn ich nur meine Songs einem Produzenten abliefern oder zu Gesangsaufnahmen ins Studio müsste. Jetzt habe ich mir in meinem Haus ein Studio eingerichtet, in dem ich vieles zeitlich optimieren kann. Also sollte es bis zur nächsten Produktion nicht mehr so lange dauern.

 

bm:  Auf dem neuen Album stammen drei Songs von Dir, an weiteren vier hast Du mitgeschrieben. Bist Du in erster Linie Sängerin oder Songwriterin?

AC:  Ich weiss es nicht. Oft fragt man mich, ob ich Sängerin, Songschreiberin oder Musikerin sei. Das ganze fing an, als ich fünf Jahre alt war. In unserer Familie hatte die Musik immer eine zentrale Rolle. Ich spielte in der Band meiner Eltern erst Rhythmusgitarre, dann Leadgitarre, dann sang ich erstmals. So hat sich das entwickelt. Ich sehe mich als „Gesamtpaket“. Ich kann nicht das eine wichtiger einstufen als das andere.

 

bm:  Nach welchen Kriterien suchst Du die Songs aus, die Du nicht selber schreibst?

AC:  Emotion. Wenn jemand daher kommt und mir einen Song vorspielt, den ich mag, schmeisse ich möglicherweise einen meiner eigenen über Bord. Für mich ist es wichtig, dass ich mich mit dem Lied identifizieren kann. Wenn ich selber schreibe, hat die Geschichte meist einen wahren Hintergrund. So versuche ich, ähnliche Ereignisse auch in fremden Songs zu finden. Es ist dann, wie wenn ich ihn selber geschrieben hätte.

 

bm: Was ist wichtiger in einem Song, die Worte oder die Musik?

AC: In der Country Music sind Worte sehr wichtig. Schon immer haben mich die Geschichten der Songs fasziniert. Mehrfach in meinem Leben haben mir Songs geholfen, aus einer traurigen Situation heraus zu finden.

 

bm: Welche Message willst Du von der Bühne aus an Dein Publikum vermitteln?

AC: Jeder Song hat seine eigene Message, glaube ich. Nimm beispielsweise mein Lied Daddy Can You See Me. Ich schrieb es für meine beste Freundin, als ihr Vater starb. Früher spielten wir den Song bei Konzerten nicht. Aber der Text hat offenbar so viele Fans berührt, dass wir massenweise Anfragen bekamen, das Lied zu spielen. Da es ein sehr persönlicher Song ist, trage ich ihn alleine mit meiner Gitarre vor. Wenn ich wütend bin oder aufgedreht, höre ich mir Rocksongs an, wenn ich in anderer Stimmung bin, suche ich die passende Musik.

 

bm: Du stammst aus einer sehr musikalischen Familie. Finden heute noch die berühmten Familien-Jam Sessions bei Euch zu Hause statt?

AC: Nicht oft. Wir haben nicht mehr viel Gelegenheit dazu. Vor drei Wochen allerdings war ich ein paar Tage zu Hause in Michigan. Viele Freunde kamen und wir hatten eine Riesenparty und jede Menge Spass. Wir sangen und spielten alle Songs, an die sich irgend einer von uns erinnern konnte.

 

bm: Wie verträgt sich das viele Reisen und die Absenzen mit Deinem privaten Umfeld?

AC: Schwierig. Ich bin auf einer Farm aufgewachsen und habe mir vor zwei Jahren eine eigene Farm in Tennessee gekauft. Ich bin ein ziemliches Country Girl, am liebsten draussen, in der Natur. Pferde pflegen, reiten oder irgendwas arbeiten. Hauptsache an der frischen Luft. Das vermisse ich. Andererseits reise ich auch sehr gerne, vor allem an Orte, die ich noch nie gesehen habe. Viele unterschätzen den Aufwand, den Du als aktiver Musiker treiben musst. Es ist ja nicht so, dass Du nach einem Auftritt einfach nach Hause fährst und das Leben geniessen kannst. Da warten Telefonate, Studioarbeiten, Drehaufnahmen zu Videos, Planung, Presseauftritte und so weiter auf Dich. Dann noch Songschreiben und schon geht’s zum nächsten Auftritt.

 

bm: Apropos Auftritte. Du hattest letztes Jahr die General Motors Tour und bist an allen NASCAR Rennen aufgetreten. Viele von uns hier hat der kürzliche Renntod von Dale Earnhardt sehr traurig gemacht. Der Unfall sah gar nicht so spektakulär aus.

AC: Das war wirklich ein Schock. Der Unfall davor mit dem sich mehrfach überschlagenden Wagen sah sehr viel gefährlicher aus. Dale war seit drei Jahren ein guter Freund. Wir konnten nicht glauben, was wir letzte Woche sahen und hörten. Zwei Songs entstanden für die Tour. Girl’s Like Fast Cars und Good Times. Letzterer für einen Werbespot. Auf der Good-Times-Tournee spielten wir abwechselnd sieben Nächte, hatten einen Abend frei, und das während drei Monaten. Jeden Abend in einem andern Bundesstaat. Wir werden Dale sehr vermissen.

 

bm: Country Music Verkäufe sind seit 1998 rückläufig. Welche Gründe gibt es dafür Deiner Meinung nach?

AC: Jeder hat hierzu wohl seine eigene Meinung. Ich glaube Country Music ist sehr stark gesteuert von den Radiostationen. Einige Künstler verkaufen heute zehn Millionen Platten. Allerdings nicht an das Country Publikum. Sie sind in den Popcharts zu finden und sprechen mit ihren Songs die Teenager an. Als rejner Country Artist hast Du es heute schwer. Einerseits sollst Du Platten verkaufen, damit Dein Labelvertrag bestehen bleibt, andererseits wirst Du nicht am Radio gespielt, weil Du zu sehr Country bist. Wie sollst Du CDs verkaufen, wenn Du nicht gespielt wirst? Das verstehe ich nicht. Hast Du schon mal einen Rocksender gehört, der dem Künstler sagt: ‚Wir können Dich nicht spielen, weil Du zu sehr Rock bist?’ Andererseits, wie soll ein Teenager auch  einen Text wie zum Beispiel in Daddy Won’t Sell The Farm verstehen? Du brauchst eine gewisse Lebenserfahrung, damit Du die Geschichten der Country Music Songs richtig verstehen und Dich damit identifizieren kannst.

 

bm: Dein Duett mit Steve Wariner What If I Said ist ein wunderschöner Song. Gibt es in Deinen Träumen einen Künstler, mit dem Du noch gerne ein Duett aufnehmen würdest?

AC: Ja, sogar sehr viele. Aber wenn ich mich wirklich auf einen Namen beschränken muss, dann ist es Loretta Lynn. Als ich angefangen habe, war mein grösstes Ziel, in ihrer Band Gitarre zu spielen. Es gibt für mich keine vergleichbare Künstlerin.

 

bm: Du triffst Aladdin. Welche drei Wünsche hast Du an den Geist der Lampe?

AC: Erstens gesund zu bleiben und ein langes Leben zu haben. Dann das selbe für meine Familie. Und schliesslich, bei allem was ich mache, glücklich zu sein. Erfolg oder nicht, ich werde immer Musik machen.

 

bm: Wenn Du ein Interview mit Anita Cochran führen würdest, welche Frage stellst Du ihr, die ich nicht gestellt habe?

AC: Oh Gott, das hat noch keiner wissen wollen. Keine Ahnung...Mann, das ist schwierig. Normalerweise hab ich immer Antworten. Lass mich nachdenken. Vielleicht: ‚Was würde ich tun, wenn ich keine Musikerin wäre?’

 

bm: Und die Antwort?

AC: Wahrscheinlich würde ich dann hundertprozentig meine Farm bewirtschaften. Ja, das Farmleben wär was für mich.

 

bm: Anita, ich wünsche Dir für die Zukunft viel Erfolg. Vielen Dank für das Gespräch.