Interview mit Victoria Shaw

© March 1999 / Bruno Michel

 

Geboren in New York, aufgewachsen in Kalifornien und erfolgreich als Songschreiberin in Nashville. Diese zwar richtige aber kurze Beschreibung reicht bei weitem nicht, um aufzuzeigen, wer Victoria Shaw ist.

 

Nach der Rückkehr aus Kalifornien in ihreGeburtsstadt, pendelte sie anfangs noch zwischen Nashville und New York um Leute aus dem Musikgeschäft zu treffen, darunter auch einen, damals noch eher unbekannten, Garth Brooks, zu dem sie später eine tiefe Freundschaft entwickeln sollte. Victoria schaffte es, einen Songwriter Vertrag mit Gary Morris Music abzuschliessen. Aber es dauerte noch einige Zeit, bis sich ihr erster Traum erfüllte, Nummer-1-Hits zu schreiben. Doch dann ging‘s stetig bergauf. Mit den Garth Brooks Hits The River und She‘s Every Woman, Doug Stone‘s Too Busy Being In Love und I Love The Way You Love Me von John Michael Montgomery gelangen ihr gleich vier Nummer-1-Würfe. Jetzt war Victoria Shaw eine von Nashville‘s begehrtesten Songschreiberinnen.

 

1993 wurde ihr zweiter Traum wahr. Warner/Reprise nahm sie unter Vertrag und veröffentlichte ihr Debut-Album In Full View und als nächstes Victoria Shaw. In diese Zeit fielen auch Tourneen, u.a. mit Travis Tritt, Charlie Daniels, Confederate Railroad oder Don Williams, sowie ihr erster Besuch in der Schweiz am legendären Festival in Grindelwald.

 

Mittlerweile war sie bekannt genug, dass die Cystic Fibrosis Foundation an sie herantrat – eine Vereinigung zur Unterstützung von Kindern und Jugendlichen mit dieser Krankheit – und sie bat, für sie einen Song zu schreiben. Sie begann sich mit der Krankheit zu befassen und mehrere Ärzte des Vanderbilt Kinderspitals versicherten ihr, dass man auf der Spur nach einer Heilungsmöglichkeit sei. Der Einsatz für die Mittelbeschaffung zur Forschung nach Heilmethoden wurde zu Victoria‘s Mission.

 

Victoria wusste, dass sie etwas Spezielles brauchte, um die Leute in die Läden zu holen und zum Kauf der Single und damit Geld in die Foundation zu bringen. Im Sommer 98 hatte sie weitere prominente Stimme für den Song gefunden, unter anderem die von Brian White, Faith Hill, Billy Dean oder Neal McCoy. Auch Olivia Newton-John verschob Termine, um ihre Tonspur rechtzeitig aufnehmen zu können.

 

Der Song One Heart At A Time verkaufte sich in den ersten Monaten ohne Airplay über 200‘000 mal, was pro Single einen Betrag von $ 1.45 für die Foundation bedeutete. Allerdings ärgerte sich Victoria darüber, dass der Song nicht im Radio gespielt wurde. „Es hätte denen nicht weh getan, den Song zu spielen, es tut vielen weh, dass sie es nicht getan haben. Stell Dir vor, wieviele Singles wir verkauft hätten mit Radio-Unterstützung.“

 

Ich wollte von Victoria wissen, wie es in ihrer Karriere nun weitergeht.

 

bm: Im Einführungsteil habe ich unseren Lesern Dein Engagement für die Foundation geschildert. Wie hat sich Dein Einsatz und der Erfolg für dieses Projekt in letzter Zeit weiterentwickelt?

VS: Es läuft gut weiter und ich bin sehr stolz auf das Projekt. Führende Zeitschriften wie das People- oder das Time-Magazine haben gratis Inserate veröffentlicht. Mittlerweile liegen wir bei knapp 300‘000 verkauften Singles.

 

bm: Was war – nebst fehlender Radio-Unterstützung – für Dich die frustrierendste Erfahrung bei dieser Aufgabe?
VS: Über die Radios bin ich immer noch frustriert. Zudem hätte das Projekt vom Plattenlabel sicher besser vermarktet werden können. Aber ich und viele meiner Freunde haben viel Zeit investiert und sind stolz auf das bisher erreichte.

 

bm: Welcher wichtigen Aufgabe willst Du Dich als nächstes zuwenden?

VS: Mein grösstes Projekt läuft im Juli, wenn mein erstes Kind zur Welt kommt. Eigentlich bringe ich zuvor im Mai noch ein „Kind“ zur Welt, nämlich mein neuestes Album. Aber die Geburt meines Kindes ist die wohl grösste Herausforderung meines Lebens.

 

bm: Sprechen wir über Deine Musik. Spürst Du beim Songschreiben das Hit-Potential nach so vielen Nummer-1 Erfolgen?
VS: (lacht) Wenn ich wirklich wüsste, was ein Hit wird, würde ich ein Buch schreiben und mich pensionieren lassen. Es gibt keine Hit-Formel. Es muss den aktuellen Geschmack des Publikums treffen. Songschreiben ist schon sowas wie Kunst, aber Du brauchst eben Glück. Ich habe einige Lieder geschrieben, die ich wunderbar finde, es wurden trotzdem keine Hits.

 

bm: Jedermann bekommt heutzutage ein Label, ein Image aufgeprägt. Welches Image willst Du den Fans vermitteln?

VS: Wenn ich ein Image haben will, dann vielleicht das eines Songwriters. Ich glaube, die Leute respektieren Deine Arbeit eher, wenn sie wissen, dass Du viele gute Lieder geschrieben hast und damit erfolgreich bist. Aber eigentlich wünsche ich mir das Image einer Freundin zu vermitteln. Ich will nicht oben auf der Bühne und über den Fans stehen. Die sollen denken : Mit der möchte ich Pferde stehlen und rumhängen. Die Fans sehen mich auf der Bühne so, wie ich auch privat bin.

 

bm: Viele Singer/Songwriter finden es befriedigender, einen Song vorzutragen als einen Song zu schreiben. Wie ist das bei Dir?

VS: Ich habe gesungen, lange bevor ich zu schreiben anfing. Zwar bin ich eine Sängerin / Songschreiberin – in dieser Reihenfolge – aber ich könnte mit keinem von beiden aufhören. Ich will meine Songs singen und freue mich ebenso, wenn andere meine Lieder aufnehmen. Aber um Deine Frage ultimativ zu beantworten, ich trete lieber auf…aber singe meine eigenen Songs…weil ich es liebe zu schreiben (lacht).

 

bm: Wenn Du Deine Talente in einem Song zeigen müsstest, welchen wählst Du?

VS: Meine Gesangs- oder Songwriter-Talente?

bm: Beides.

VS: Als Songschreiberin wähle ich mein neues Album, weil es meine Talente am besten von all dem zeigt, was ich bisher herausgebracht habe. Da reicht ein einzelner Song nicht. Als Sängerin wären es Songs wie I Love The Way You Love Me oder aus meinem neuen Album So Many Miracles. Ich habe eine kräftige Stimme, also mag ich Lieder mit Stimmvariationen. Und ich liebe Uptempo-Songs.

 

bm: Was war der beste Rat, den Du je erhalten hast, sei es privat oder beruflich?
VS: In meiner Familie haben wir ein Sprichwort : Was kann schon passieren. Will heissen, wir haben keine Angst davor, Neues auszuprobieren, Fehler zu machen usw. Ich lebe nach diesem Motto : Was kann schon passieren. Es kann schiefgehen, na und. Aber wenn ich etwas nicht versuche, habe ich möglicherweise keinen Erfolg. Was den beruflichen Rat angeht, wäre ich manchmal froh, wenn mir mehr Leute Ratschläge geben würden. Am meisten profitiert habe ich von zwei Tips meiner Songwriter-Kollegen. Erstens, was Du schreibst, muss irgendwie einen Sinn haben und zweitens, wenn Du eine Version hast, ändere sie nicht mehr. Versuche nicht, Worte, Inhalt oder Reihenfolge des Textes oder der Melodie nachträglich zu ändern.

 

bm: Musst Du Dich mit dem Inhalt eines Songs identifizieren können?
VS: Ich brauche das Thema nicht selber erlebt zu haben, aber ich muss eine Verbindung herstellen können. Wenn ich einen Song über den Mars schreiben soll, muss ich die Szene vor meinem geistigen Auge sehen können, muss daran glauben können.

 

bm: Gibt es etwas, das Du in Deinem Leben gern getan hättest, aber nicht getan hast?
VS: Was nicht ist kann noch werden. Darum blicke ich auch nicht gerne zurück, sondern schaue in die Zukunft. Ja, ich hätte gern ein Platin-Album, einen Grammy, einen Song der die Oskar-Nominierung bekommt….(lacht wieder). Nein ehrlich, es macht keinen Sinn, Ziele zu verfolgen, die Du nie erreichen kannst. Ich wäre also nicht gerne als Chirurgin tätig. Aber mit meinen bisherigen Erfolgen im Rücken nehme ich mir die nächsten realisierbaren Ziele vor.

 

bm: Was soll die Zukunft für Victoria Shaw persönlich bereit halten?
VS: Ich wäre gern mit meiner Familie in allen möglichen Ländern unterwegs. Ich mag fremde Umgebungen und neue Menschen. Und ich wünsche mir Gesundheit für mich und meine Familie.

 

bm: Wenn Du Victoria Shaw interviewen würdest, welche Frage stellst Du ihr, die ich nicht gestellt habe?
VS: Oh, jetzt muss ich nachdenken. Moment…Ich weiss : Was stört mich am meisten in diesem Geschäft.

 

bm: Und was?
VS: Leute, die Dir ein Label verpassen wollen, die nicht offen genug sind, für Experimente, für Neues. Sie wollen Dich in eine Box sperren, auf der steht „Country“. Und wenn Du mal was anderes machst, verstehen sie die Welt nicht mehr. Natürlich lebe ich in Nashville und mag Country Music. Aber ich liebe auch Pop Musik und andere Stilrichtungen. Ich bin in erster Linie Sängerin und Songschreiberin. Ich hatte gerade einen Hit in England mit der Gruppe Boyzone. Aber das verwirrt die Leute zuhause. Am schönsten wär‘s, wenn Du in einem Geschäft einkaufen gehst, und da gibt‘s nur eine Musikecke. Keine Labels, keine Themenkreise. Viele Leute kaufen keine Country-Music, weil sie diesen Bereich schon meiden, wenn sie das Label sehen.

 

bm: Ein guter Schluss. Ich wünsche Dir, dass viele Leute Deine Platten kaufen, egal welcher Stil drauf ist.

VS: Vielen Dank für das Gespräch.